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Der Kopf als Hauptcontroller

Mit virtueller Realität können wir verborgene Aktivitäten von Materialien entdecken und schwer erreichbare Räume zugänglich machen – für ein besseres Verständnis unserer Welt

Können wir unsere Wahrnehmung der Welt im Zeitalter des Digitalen und Virtuellen erweitern? Sind Bilder, Materialien und Räume vielleicht gar nicht tot und passiv, sondern lebendig und aktiv? Welche neuen Gestaltungsideen ergeben sich daraus? Und wie kann die virtuelle Realität eine solche Aktivität sichtbar machen?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich Dr. Christian Stein, Informatiker, Germanist und Game-Designer an der HU Berlin und im Exzellenzcluster „Matters of Activity. Image Space Material“. Antworten gibt er mit VR-Anwendungen für Museen, Schulen und Medizin, mit denen wir Welten erleben können, zu denen wir sonst gar keinen oder nur schwer Zugang haben.

Im Interview erzählt er, wie sich in der virtuellen Realität die Grenzen zwischen dem physischen und dem wahrgenommenen Raum verwischen, wie man das Innere eines Bimssteins durchwandern kann und wie Virtual Reality der komplexen Ausbildung von Neurochirurg*innen nutzt.

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Dr. Stein, Sie sind am Exzellenzcluster „Matters of Activity. Image Space Material“ beschäftigt. Dessen Grundannahme ist es, dass Bilder, Materialien und Räume gar nicht tot und passiv, sondern lebendig und aktiv sind. Wie können denn Materialien wie Textilien, Holz oder Metall lebendig sein?

Wenn ich zum Beispiel etwas aus Holz baue, stelle ich meist seine eigene Aktivität still. Ich verschraube es, fasse es ein oder verleime es. Wenn ich aber die Aktivität des Holzes zulasse und idealerweise für meinen Bau nutze, kann ich ganz andere Formen von Design denken. Es reagiert zum Beispiel auf Feuchtigkeit oder Temperatur. Ein Fensterverschluss aus Holz kann sich durch die Eigenaktivität des Holzes bei starker Sonneneinstrahlung schließen und bei Dunkelheit öffnen. Dahinter steckt keine Mechanik, kein Motor. Das Holz hat also einen „materiellen Code“, der eine Aktivität auslöst. Wenn wir diese Codierung verstehen, die auch Bildern und Räumen innewohnt, können wir sie benutzen.

Aus dem Wissen über die Aktivität von Materie wollen Sie Design-Strategien für Architektur, Robotik, Textilien oder auch für die Chirurgie entwickeln. Wie gelingt Ihnen der Wissenstransfer in die Arbeitswelt?

Unser Vorgänger-Cluster „Bild Wissen Gestaltung“ hat bereits ein weltweit einzigartiges Masterprogramm entwickelt, den „Open Design Master“. Dort werden Designer*innen methodisch und theoretisch vorbereitet, mit aktiver Materie zu designen. Sie müssen diese figurative Aktivität ja überhaupt erst denken können. Sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden dieses Doppel-Masters von der HU Berlin und der Universidad de Buenos Aires kommen aus vielen verschiedenen Disziplinen und aus rund 15 Ländern. Wir versuchen, ihnen eine radikale Interdisziplinarität beizubringen. Sie sollen lernen, andere Fächer über das Hineinschnuppern hinaus zu verstehen. Das beinhaltet geisteswissenschaftliches Arbeiten, Programmieren oder auch praktische Laborarbeit.  

Die virtuelle Realität, also VR, öffnet Räume, die in der Wirklichkeit nicht zugänglich sind. Wie funktioniert das?

Mit der VR können wir dreidimensionale, begehbare und dynamische Bilder erschaffen, in denen wir uns räumlich orientieren können. Man kann hineingehen, anstatt nur vor einem Bildschirm zu sitzen. Man kann dort Dinge erfahren oder sogar anfassen, die anders gar nicht sichtbar sind und auch sehr komplexe Themen veranschaulichen.

Für „Stretching Materialities“, eine unserer experimentellen Ausstellungen, haben wir einen Bimsstein mit Computertomographie gescannt und aus den realen Daten eine Miniaturhöhle designt. Mit einem VR-Headset kann man hineingehen, sie von innen anschauen sowie die verborgenen Gänge, Röhren und Verwitterungsprozesse in dem porösen Gestein entdecken. Solche Prozesse können wir Menschen normalerweise gar nicht wahrnehmen, weil sie Hunderte von Jahren dauern.

Mein Kollege Clemens Winkler hat darüber hinaus Wolkenstrukturen erzeugt, denn Wolken sind eine hochaktive Materie. Sie umgeben uns als Klima und verändern sich ständig durch Luftbewegungen, Feuchtigkeit oder Temperatur. All diese globalen verborgenen Aktivitäten haben Einfluss auf unser Leben. Wenn wir sie verstehen, ändert sich auch unser Verständnis der Welt.

 Und wie reagieren die Menschen auf diese virtuellen Ausflüge?

Das kommt auf die Interaktionsmöglichkeiten in dem begehbaren Raum an. Kann man etwas anfassen, sich bewegen oder die Dinge von verschiedenen Seiten wahrnehmen? VR-Experimente mit Hunderten Studierenden haben gezeigt: Die erste Reaktion ist oft die ausgestreckte Hand. Man will etwas anfassen, anders als am Bildschirm. Das liegt daran, dass das menschliche Gehirn intuitiv reagiert, dass wir räumlich denken, und zwar jüngere genauso wie ältere Menschen.

In der VR gibt es den typischen Alters-Gap beim Umgang mit der Technik nicht, der bei Smartphone oder Computer typisch ist. Die Letzteren erfordern erlerntes Interaktionswissen, das Medium VR ist viel intuitiver, weil es räumliche Eindrücke erzeugen kann. Dabei befindet sich der ganze Körper in dem Raum, und der Hauptcontroller ist der eigene Kopf. In „Stretching Materialities“ konnte man den gesamten Ausstellungsraum begehen und sogar mit einem virtuellen Fahrstuhl über mehrere Etagen fahren, was den physischen, realen Raum versechsfacht hat. Das war übrigens europaweit einmalig.

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Mit der Ausstellung haben Sie den Besucher*innen Einblicke in Ihre Forschung gewährt.

Die Ausstellung sollte die aufgehobene Grenze zwischen virtuell/physisch, lebendig/tot, aktiv/passiv veranschaulichen. Aber wir wollten nicht nur Ergebnisse zeigen, sondern die Öffentlichkeit einladen, mit uns zu diskutieren. Das ist ja auch die Idee des „Offenen Wissenslabors“ der Berlin University Alliance. Denn die Wissenschaft braucht Impulse aus der Gesellschaft, damit sie sich nicht nur um sich selbst dreht. Innovation entsteht an den Rändern und nicht so sehr im Kern einer Disziplin.

Wie übertragen sich Erfahrungen aus der virtuellen in die reale Welt?

Wir haben beispielweise einen Koffer mit VR-Headsets für Schulen. Rund 8000 Schüler*innen haben ihn schon genutzt. Sie können damit virtuell nach Kenia reisen, um dort ein Entwicklungshilfeprojekt zum Wasserbau quasi live vor Ort zu erleben. Es hat sich gezeigt, dass dieser Ansatz die Schüler*innen enorm motiviert, sich auch selbst einzubringen. 

Mit VR-Anwendungen können nicht nur andere Länder, sondern auch schwer zugängliche Räume besucht werden, zum Beispiel Operationssäle. Medizin-Studierende können sozusagen vor Ort einer Gehirnoperation beiwohnen...

Richtig, mit unserem Trainingsprogramm für die Neuro-Chirurgie. Wir nehmen dafür dreidimensionale 360°-Bilder im OP-Saal auf und verschränken diese mit einem stereoskopischen Mikroskopbild. So können viele Studierende gleichzeitig mit dem Chirurgen auf die Operationsstelle schauen.

Der Blick kann auch gewechselt werden, um die Interaktion des Personals untereinander und mit der Technik räumlich wahrzunehmen. Das ist in der Realität selten möglich, und wenn, dann häufig erst spät im Studium, auch weil der Platz im OP begrenzt ist. Selbst erfahrene Chirurg*innen können damit OPs noch einmal Revue passieren lassen. Das kann die Aus- und Weiterbildung verbessern.  

Welche Rolle spielt der Wissenschaftsstandort Berlin für die enorme Interdisziplinarität Ihrer Arbeit?

Berlin ist wirklich einzigartig. Hier kommt ganz viel Wissen zusammen, denn die Kommunikation ist hoch durchlässig, die Wege sind kurz, auch für die Anbahnung neuer Projekte zwischen den Universitäten. In der Gestaltungsforschung begegnen sich Unis, Kunsthochschulen und Museen auf Augenhöhe, die Bereitschaft, sich auszutauschen und zu vernetzen, ist groß. Ein riesiges Potenzial für ungewöhnliche Schnittstellen und Innovationen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Bildcredits: Matters of Activity / C. Sauer 

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